Deutsche Schicksale in der Sowjetunion

Leben im GULag: Ankunft und Unterbringung, Zwangsarbeit, Schicksale von Frauen

Ankunft und Unterbringung

Nach wochenlanger Zugfahrt in die Zwangsarbeitslager der Sowjetunion waren die Menschen erschöpft, ausgemergelt und krank. Die Bahnstationen lagen nicht immer direkt am Lagerort und die Neuankömmlinge mussten oft mehrere Kilometer zu Fuß laufen. In einigen Lagern gab es Quarantänebaracken, um das Einschleppen ansteckender Krankheiten zu verhindern.

Die Einkleidung der Häftlinge, ihre Ausstattung mit Geschirr und Bettzeug, die Einteilung in Baracken und Arbeitsbrigaden waren sehr unterschiedlich und erfolgten vielerorts sehr chaotisch. Oft musste die mitgebrachte Kleidung aufgebraucht werden, bevor Lagerkleidung ausgegeben wurde. In manchen Lagern wurde Winter- und Sommerbekleidung verteilt. Geeignetes Schuhwerk fehlte meistens.

Elektrisches Licht gab es selten, nur Petroleumlampen oder selbstgefertigte Benzinlampen waren vorhanden. Die Schlafplätze auf den Pritschen waren zwischen 35 und 50 cm breit, zumeist ohne Auflagen und nur selten mit Strohsäcken ausgelegt.

Ankunft und Unterbringung
Auf dem Tor steht:„Für die Heimat! Für Stalin! Vorwärts!“ Quelle: wikipedia commons

Frau U. R. aus Ulmbach im Banat erinnert sich:

"Es ging in die Quartiere, Notquartiere kann man sagen: für 500 waren Vorbereitungen getroffen und der ganze Transport betrug 1.300 Personen. In Halbruinen wurden wir untergebracht, der Wind pfiff aus allen Ecken. Viele haben der Witterungsunbill nicht standgehalten und sind erkrankt, auch die ersten Toten waren schon zu beklagen."

Aus: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.): Das Schicksal der Deutschen in Rumänien. Augsburg 1994.

 

Hilde Nowak berichtet über ihre Ankunft im sowjetischen Lager:

"Wir gingen durch das Tor und hielten vor einer Baracke. Ein kleiner Flur, rechts und links eine Tür, die offenstand. Die Tür in der Mitte war zu. Wir kamen auf die linke Seite. Ein riesiger Raum, der rechts und links völlig von zwei Reihen gewaltiger Brettergestelle ausgefüllt war. Keine Bettstellen, keine Matratzen oder Strohsäcke, keine Kopfkissen oder Decken, nur die rohen Bretter. Ich sah mich enttäuscht um. Was hatte ich denn anderes erwartet. Vielleicht ein frisch bezogenes Bett mit einem Nachttisch, eigenem Spind oder Ähnlichem? (...) Innerhalb des Lagers konnten wir uns frei bewegen. Wir suchten verzweifelt, wir fragten herum, doch eine Wasserleitung fanden wir nicht. Nach einer Stunde wussten wir genau, dass es im ganzen Lager kein Wasser gab."

Aus: Nowak, Hilde: Gratis nach Sibirien, Kassel 2007.

Gerlinde Winkler aus Dörbeck, Kreis Elbing in Westpreußen, berichtet:

"Am 23. März (1945) lud man uns aus. Die zwei Kilometer vom Bahnhof bis zum Erdbarackenlager Maschalinka waren für mich eine Qual sondergleichen. Die Knie, durch den Transport dermaßen geschwächt, bogen einfach nicht und versagten vollkommen. Die Unterkunft war außerordentlich schlecht. Unsere Betten waren zweistöckige Holzgestelle. Strohsäcke existierten in den ersten 14 Tagen überhaupt nicht. Die kahlen Bretter waren für uns gut genug."

Aus: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.): Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Band 2. Augsburg 1993.

Ein verschleppter Tierarzt aus dem ungarischen Banat erinnert sich:

"Die eigentliche Auswaggonierung begann dann am 2. Februar um 23.00 Uhr. Wir wurden in Kirovjrog, Kaganowitsch-Grube, die nordöstlich 20 Kilometer von K. liegt, ausgeladen. Es war überraschend, als wir bemerkten, dass zirka 15 Frauen mit Gewehr uns umringten. Truppenweise wurden wir ins Lager geführt. Pakete mussten wir im Lagerhof liegen lassen. Die ganzen Menschen standen dann die ganze Nacht zusammengepresst auf dem kalten Gang. In der Frühe, als wir unser Lager anschauten, kam die zweite Überraschung. Das Lager war ein zweigeschossiges Gebäude. Der zweite Stock war aber abgebrannt und man konnte aus dem ersten Stock in den Himmel sehen. Keine Türen, keine Beleuchtung, die Wände nicht verputzt. In den Räumen waren als Schlafstellen Holzpritschen, diese zwei- bis dreifach übereinander. Das ganze Gebäude mit einem kleinen Hof war mit starkem Stacheldraht eingezäunt, an jeder Ecke eine Frau mit Maschinenpistole."

Aus: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.): Das Schicksal der Deutschen in Ungarn. Augsburg 1994.

Ursula Rumin beschreibt ihre Ankunft im Lager Workuta:

"Unsere Namen werden aufgerufen, wir müssen einzeln aus dem Waggon springen, hinein in den meterhohen Schnee, uns in Linie aufstellen. (...) Unsere Gruppe setzt sich in Bewegung, umringt von Posten mit Maschinengewehren und bellenden Hunden. (...) In der Ferne sehen wir Scheinwerfer, in deren Licht Wachtürme, die ein großes Viereck markieren, ein Lager! Dann schälen sich Baracken aus der Dunkelheit, zum Teil ragen nur ihre Dächer aus dem Schnee. Todmüde erreichen wir das Lagertor, geblendet von den auf uns gerichteten Scheinwerfern. Zwei Posten gehen voran. Die Lagerstraße ist vom Schnee
geräumt, rechts und links vor den Baracken stehen ein paar Frauen in Wattekleidung und winken uns zu: ‚Hallo, ihr Bleichgesichter, wo kommt ihr denn her?‘ ‚Aus Berlin‘, rufen wir zurück."

Aus: Rumin, Ursula: Im Frauen-GULag am Eismeer. München 2006.

Aila de la Rive beschreibt in ihrer wissenschaftlichen Arbeit:

"Die Häftlinge hießen ‚wremmenyje saklutschonnyje’, zu deutsch ‚zeitweilig Inhaftierte’, abgekürzt ‚Seki’. Nach meist monatelanger Untersuchungshaft und wochenlangem Transport kamen sie an ihren zeitweiligen oder endgültigen Bestimmungsort, das Strafarbeitslager. Hier kamen vier Fünftel zu den ‚Allgemeinen’, die den Kern des Lagers bildeten und seinen schweren Bedingungen am heftigsten ausgesetzt waren.
Die Gefangenen stellten eine hierarchisch geschichtete Lagergesellschaft dar. Unter den Schwerkriminellen standen Gelegenheitsverbrecher und kleine Gauner, unter diesen wiederum versammelten sich Gesetzesübertreter der verschiedensten Art. Sie vor allem besetzten die höheren Posten in der Lagerverwaltung. Als Zwischengruppen gab es die Ordner und die technischen Spezialisten. Ganz unten standen die ‚volksfeindlichen’ Politischen, die in stalinistischer Zeit etwa die Hälfte der Lagerbevölkerung ausmachten. Unter den politischen Gefangenen waren alle Gruppen der Bevölkerung vertreten, insbesondere aus der ausländischen und russischen Intelligenz. Neben den Kommunistinnen und anderen Linken gab es Christinnen, als staatsfeindlich angesehene Individuen und Angehörige nichtrussischer Völker.
In aller Regel waren die Lager gemischt, wurden also von Frauen und Männern bewohnt. Diese gemeinsamen Lager waren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges üblich; ab dem Jahre 1946 begann die Obrigkeit dann, die weiblichen und männlichen Gefangenen in verschiedenen Lagern unterzubringen.“

Aus: Rive, Aila De la: Geschlechtsspezifische Überlebensstrategien im stalinistischen Gulag. München 2000, GRIN Verlag, www.hausarbeiten.de/document/106519.

 

Zwangsarbeit

Zwangsarbeit war ein wichtiges Element der sowjetischen Planwirtschaft. Die Lagerinsassen wurden zu körperlicher Schwerstarbeit gezwungen. Sie arbeiteten in allen Bereichen
der Industrie, im Bergbau, beim Bau von Eisenbahnlinien, Kanälen und Gebäuden sowie in der Land- und Forstwirtschaft.

Eine hohe Arbeitsnorm und Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden, sieben Tage die Woche sind belegt. Die Erfüllung der Arbeitsnorm versprach Belohnung, deren Unterschreitung führte Sanktionen nach sich. Vergünstigungen wie Tabakzugaben, Unterbringung in besseren Baracken oder Vorzüge bei der Ausgabe von Kleidung und Schuhen kamen vor, aber meist konnten die hohen Anforderungen nicht erfüllt werden.

Brigade

Die Zwangsarbeit in der Sowjetunion war zumeist in Brigaden (russisch: brigada) organisiert. Das waren kleinste Arbeitseinheiten, von fünf Zwangsarbeitern oder mehr, die durch einen Vorarbeiter befehligt wurden. Diese Gruppe blieb über Monate, manchmal Jahre zusammen und wurde bei Krankheit oder Tod eines Arbeiters durch einen neuen ergänzt. Die Arbeitsabläufe im Bergwerk, beim Eisenbahnbau oder in der Forstwirtschaft machten das Zusammenwirken eines eingespielten Teams sinnvoll. Brigaden bildeten ein wichtiges Element innerhalb der gesamten sozialistischen Produktion. Durch den Druck der Kleingruppe auf das Individuum konnte es keine „Drückeberger“ geben. Auch beim Zählappell, beim Marsch zur Arbeit und bei der Unterbringung bildete die Brigade eine Einheit.

Horst Bienek schreibt zur Arbeit im Bergbau unter Tage:

"Im Schacht teilten sie mich gleich unter Tage ein. (...) Ein Litauer, klein, aber zäh, war der einzige, der mich mitnahm. ‚Paidiom‘, sagte er, und er zog mit mir in den Stollen. (...) Er schuftete für zwei. Wenn im Stollen gesprengt wurde und die Gase waren noch gar nicht verschwunden, da fing er schon hustend an, die Kohle auf den Transportjor zu schaufeln. Von dort wurde sie unterhalb des Stollens von einer Lore aufgenommen. (...) Der Flöz war ziemlich niedrig, und ich musste gebückt gehen. Seitdem habe ich meine Rückenschmerzen."

Aus: Bienek, Horst: Workuta. Göttingen 2013.

 

Aila de la Rive zitiert in ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Inspektion der Gefangenen

"Der Arzt umfasste mit einer Hand die Gesäßmuskulatur, um deren Größe und Konsistenz festzustellen. Dies war ein aussagefähiges Zeichen für den Kräftezustand des Untersuchten. Bei Frauen allerdings wurden in den meisten Fällen, insbesondere, wenn die Patientinnen schon sehr schwach waren, nur die Mammae, die Brüste, begutachtet. Diese Arbeitseinteilungsmethode war für die Frauen höchst unangenehm: ‚Hier kam alle vier Wochen eine Kommission ins Lager, zur ‘Fleischbeschauung’, wie wir es nannten. Dann mussten wir uns nackt ausziehen und einzeln vor drei Offiziere treten, den Lagerarzt und den Kommandanten. Sie empfingen uns stets mit einem spöttischen Lächeln, und wir haben uns jedesmal furchtbar geschämt."

Aus: Klier, Freya: Verschleppt ans Ende der Welt, Berlin 1996 und Conquest, Robert. The Great Terror. A Reassessment. London, Sydney, Auckland, Bergvlei 1990.

Am meisten gefürchtet, so Ursula Rumin, waren die Ziegeleien:

"Es ist schwer, in der Geschichte der Sklaverei Erschütternderes zu finden als diese schweißtriefenden und verrußten Frauen in den Ziegeleien von Workuta. Die Brennöfen sind schlimmer als die Kohlenschächte der Männer. Wenn nach dem Brand die Öfen entleert werden, beträgt die Hitze darin 60 bis 70 Grad. Wer hier längere Zeit verbringen muss, ist mit seiner Gesundheit bald am Ende. In den kirpitschnyje sawodi, in denen die Frauen Ziegel brennen, verbrennen sie gleichzeitig ihr Leben. Wenn sie in großen Holzkästen die Kohle heranschleppen, um die Öfen zu heizen, heizen sie ihr eigenes Krematorium. Hier gehen sie lebend zu Grunde!"

Aus: Rumin, Ursula: Im Frauen-GULag am Eismeer. München 2006.

Frau C. O. aus Landsberg a. d. Warthe beschreibt ihre Arbeit:

"An der 400 km langen, von Moskau nach Süden führenden Gasleitung haben wir dann, in Arbeitsgruppen eingeteilt, unsere Norm erfüllen müssen. Diese bestand in der Ausschachtung eines Grabens von 150 Meter Länge, 1,50 Meter Tiefe und 1,50 Meter Breite. Mit unhandlichem und fast völlig unbrauchbaren Handwerkszeug wurde uns das Arbeiten zu einer drückenden Qual."

Aus: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.): Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Band 2. Augsburg 1993.

"Warum soll eigentlich ein Sträfling zehn Jahre lang im Lager seinen Buckel krummarbeiten? Ich will nicht, und damit basta. Man muß die Arbeit über den Tag bis zum Abend in die Länge ziehen, dann gehört einem wenigstens die Nacht. Aber diese Rechnung geht nicht auf. Dafür hat man sich die Brigade ausgedacht. (...) Die Lagerbrigade ist nicht etwa dazu da, daß die Lagerleitung die Sträflinge, sondern daß ein Sträfling den andern antreibt. Hier gibt es nur eins, entweder es arbeiten alle zusätzlich, oder alle können krepieren. ‚Du arbeitest nicht, du Stinktier? Soll ich etwa deinetwegen hungern?‘ ‚Nein, schufte, du Lump! Und wenn dann noch ein solcher Augenblick kommt wie jetzt, dann darf man schon gar nicht müßig dasitzen. Ob du willst oder nicht, du mußt springen, laufen und dich regen."

Aus: Solschenizyn, Alexander Issajewitsch: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. München 1999.

Adolf Rator berichtet über seine Arbeit und die seiner Mutter:

"Die schlimmsten Erinnerungen an meine Kindheit sind mit einem Hungergefühl und der dauernden Abwesenheit der Mutter verbunden. Meine Mutter arbeitete wie alle deutschen Frauen Tag und Nacht. Sie fällte Wald, schuftete in der Kolchose, baute Baracken für die kommenden Aussiedler. In der Kolchose waren die deutschen Trudarmisten gezwungen, unter Aufsicht der NKWD-Vertreter aus dem Rayon die schwerste Arbeit zu erledigen. Die Mutter erzählte, dass man ihnen auf den Rücken Säcke mit Getreide lud, wobei jeder Sack 45 bis 50 Kilogramm wog. (...)
Im Winter 1942 musste ich schon selbst arbeiten gehen: Die Parteimitglieder der Siedlung hatten beschlossen, dass auch Kinder sich nützlich machen müssen. Bis 1948 war ich in der Kolchose beschäftigt, beschlug Pferde, mistete zusammen mit den anderen Jungs die Ställe aus, im Sommer fuhren wir das Getreide ins Rayonzentrum. (...) Der Weg ging an den Obstgärten vorbei. Wir stahlen Äpfel, um irgendwie den Hunger zu stillen."

Aus: German, Arkadij/Silantjewa, Olga (Hrsg.): In Arbeitskolonnen für die gesamte Zeit des Krieges. Zeitzeugen und Forscher berichten über die Deutschen in der Trudarmee. Moskau 2012.

 

Der Lehrer Josef Kohlstrung aus Hindenburg berichtet von seiner Arbeit:

"Wir wurden zu kleinen Arbeitstrupps, genannt Brigaden zusammengestellt. Das Essen hing von der Arbeitsleistung ab. Der Brigadier war immer ein Deutscher. Die Einteilung erfolgte in vier Gesundheitsgraden. Früh und abends fand Zählung statt mit Antreten. Für Arbeitende, die die Leistung vollbrachten, gab es 700 g Brot (ein Kleister aus Gerstenmehl-Schrot), ½ Liter Mehlsuppe, mittags ein Esslöffel Kascha (Hirsebrei) und abends ½ Liter Tomatenkrautsuppe ohne Kartoffeln."

Aus: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.): Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Band 2. Augsburg 1993.

Ilse Lau berichtet, dass ab Januar 1947 für die Arbeit auch Geld gezahlt wurde:

"Im Januar 1947 war es dann soweit, dass wir unsere Arbeit nicht mehr bewältigen konnten. Ich war damals Lykowoya, d.h. ich füllte die Kohlewaggons und schob sie ein Stück auf die Strecke hinaus, von wo der Elektrobus sie abholte. Mir fehlte jegliche Kraft, und ich rechne mir schon bald aus, wann mein Stündlein schlagen würde. Da kam der Befehl heraus, dass das Geld, welches wir verdienten, nicht mehr an die Offiziere unseres Lagers ausgezahlt würde, sondern dass jeder Schachter sein verdientes Geld auf die Hand ausgezahlt bekam. 140 Rubel gingen monatlich an Steuern an das Lager ab. Die herrliche Holzpritsche, der Strohsack, das Licht – ja, das konnte man doch nicht umsonst verlangen. Durch die bare Geldauszahlerei erhoffte man von russischer Seite eine Arbeitssteigerung. Es war dann auch wirklich so. Je mehr ich arbeite, umso mehr verdiente ich und umso besser konnte ich essen.
Leider verdienten wir den Russen bald zu viel, und so wurde der Tarif heruntergesetzt. Brot Kartoffel, Butter, Fleisch – alles gab es ab 1947 im freien Einkauf. Brot und Kartoffeln waren für uns gewöhnliche Sterbliche erschwinglich. Ein Eimer Kartoffeln kostete 10 bis 15 Rubel und 1 kg Brot 3,30 Rubel. Wir haben es in der ersten Zeit fertiggebracht, bis zu 3 Kilogramm Brot am Tag zu verzehren. Es kam uns überhaupt bei allem nicht auf das Gute, sondern auf die Menge an."

Aus: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg): Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Augsburg 1993.

Schicksale von Frauen

Zahlen über den Anteil der deutschen Frauen in allen Lagern der Sowjetunion sind nicht bekannt. Man kann davon ausgehen, dass unter den deutschen Zivildeportierten aus den ehemaligen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten außerhalb der Sowjetunion der Anteil von Frauen sehr hoch war. Die meisten wehrfähigen Männer waren zuvor in den Krieg gezogen und entweder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten und noch nicht zurückgekehrt. Bei der Mobilisierung zur Trudarmee 1942 wurden knapp 53.000 russlanddeutsche Frauen und Mädchen deportiert. Wie viele es insgesamt waren, ist nicht bekannt.

Die Situation von Frauen in den Lagern der Nachkriegszeit und ihre Probleme im Hinblick auf Hygiene, Gesundheit, Sexualität, schwere körperliche Arbeit, die Belastung durch die ungenügende Ernährung und den Hunger sind bis heute nicht genug erforscht.

Frauen wurden in sowjetischen Lagern meist zusammen mit Männern, jedoch in unterschiedlichen Baracken untergebracht. Es gab aber auch reine Frauenlager.
Frauen waren von Vergewaltigungen durch die Lagerleitung, das Wachpersonal oder männliche Mitgefangene betroffen. Sie wurden ungewollt schwanger, mussten abtreiben, brachten Totgeburten zur Welt oder mussten ertragen, dass ihre Säuglinge kurz nach der Geburt durch Unterernährung oder Infektionen starben. Mütter, die von ihren Kindern getrennt waren, litten große seelische Qualen und Ängste.

Besonders dramatisch empfanden russlanddeutsche Mütter, die ihre Kinder der Obhut von Verwandten oder Fremden in den Sondersiedlungen überlassen mussten, ihre Situation. Oft kümmerte sich niemand um die deutschen Kinder und sie waren sich selbst überlassen, hungerten und verwahrlosten. Manche Mütter flohen aus den Lagern, um zu ihren Kindern zu gelangen.

Um mehr Nahrungsmittel, leichtere Arbeit, bessere Kleidung oder richtige Schuhe zu erlangen, spielte Prostitution bei den weiblichen Lagerinsassen eine gewise Rolle. Frauen im Lager thematisieren in ihren Erinnerungen die Prostitution als Gratwanderung zwischen moralischem Abstieg und nacktem Überlebenswillen.

Zeitzeugen betonen, dass unter Frauen enge Freundschaften sowie gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Lageralltag weit verbreitet waren. Sie fanden Solidarität untereinander, um das Lagerleben erträglicher zu machen. Frauen feierten mit ihren Freundinnen Geburtstage und machten einander kleine Geschenke. Berichten zufolge versuchten Frauen sich durch die Pflege ihres Äußeren ein Stück Würde zu bewahren. Gelegentlich ist auch von eingeschmuggelten Lippenstiften die Rede.

Viele Frauen litten darunter, dass ihnen zur Bekämpfung der Parasiten die Haare geschoren wurden. Sie fühlten sich gedemütigt und ihrer Weiblichkeit beraubt. Hinzu kam, dass die Menstruation bei Frauen ausblieb und sie fürchteten, dauerhaft unfruchtbar zu werden. Manche Frauen berichten, dass ihnen Medikamente verabreicht wurden, die sich im Nachhinein als Mittel zum Aussetzen der Menstruation herausstellten.

Deutsche Frauen beim Bau der Eisenbahn, 1946 © www.russlanddeutsche.de
Zeichnung: Helga Sperlich © www.workuta.de

Bericht der M. R.:

"Zu dem Thema Vergewaltigung möchte ich hinzufügen, dass in unserem Lager keine Frau gegen ihren Willen missbraucht wurde. Im Gegenteil, es gab Frauen, welche unseren Abteilungsoffizieren ein schönes Gesicht zeigten, durften im Lager bleiben ohne zu arbeiten, dafür aber in gewissen Situationen sich bereitwillig zeigen mussten."

Aus: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.): Das Schicksal der Deutschen in Rumänien. Augsburg 1994.

 

Susanne Leonhard schreibt über Prostitution:

"Für ein Schneehuhn, für ein Kesselchen Beeren, für eine Handvoll Machorka (Tabak), für ein Stück Brot oder Shmych (Ölkuchen, als Kraftfutter an Kälber verfüttert) gaben sich manche Frauen jedem beliebigen Manne hin."

Aus: Leonhard, Susanne: Fahrt ins Verhängnis. Als Sozialistin in Stalins GULag. Freiburg im Breisgau 1983.

Eva Mayer erinnert sich:

"Am Anfang, sogar schon hier zu Hause, bekamen wir Medikamente, nachher auch dort draußen. Dort mussten wir sie gleich einnehmen. Und nachher haben wir erfahren, dass dann niemand mehr die Regel bekam. Niemand wusste wofür wir sie bekamen, nur nachher haben wir es erfahren. Einen Monat nachdem wir zu Hause kamen, ist meine Regel wieder in Ordnung gekommen."

Aus: Verband der Ungarndeutschen: Die Verschleppung ungarländischer Deutscher 1944/45. Budapest 1990.

Jewgenija Ginsburg beschreibt:

"Ja, sie sind geschlechtslos, diese Arbeitssklaven in ihren gesteppten Hosen, mit den zerlumpten Fusslappen, den tief ins Gesicht gezogenen Ohrenmützen, mit den ziegelroten, von schwarzen Frostbeulen bedeckten Gesichtern, die bis zu den Augen in undefinierbare Lumpen gewickelt sind. (...) Das also erwartet uns hier. In Elgen werden wir, die wir bereits unseren Beruf, die Zugehörigkeit zur Partei, das Bürgerrecht und unsere Familie verloren haben, auch noch unser Geschlecht verlieren."

Aus: Ginsburg, Jewgenija Semjonowna. Marschroute eines Lebens. Hamburg 1967.

Ursula Rumin berichtet über das Frauenlager in Workuta:

"Es gibt drei Frauenlager hier im Gebiet Workuta, und die gesamten schweren Außenarbeiten müssen von den Frauen gemacht werden, weil alle Männer unter Tage in der Kohlenförderung arbeiten. Wir müssen Schnee schippen in der Stadt, Ziegel brennen für den Häuserbau.
Die Arbeiten auf dem Holzplatz bestehen darin, dass geschlagene Bäume aus dem Ural von den Eisenbahnwaggons abgeladen, auf dem Holzplatz gestapelt und später geschält, also mit riesigen Messern von der Rinde befreit werden. Und dann werden sie wieder auf die Waggons geladen, und die fahren sie zur Holzverarbeitung irgendwo hin. (...)
So, und dann haben wir noch die Tundra. Hier werden die halbhohen Bäume und Sträucher gerodet, und die Eisenbahnlinie wird verlegt, eine harte Arbeit, vor allem im Winter ist es die reine Hölle."

Aus: Rumin, Ursula: Im Frauen-GULag am Eismeer. München 2006.

Mina Stettinger erinnert sich:

"Eva war kaum 17 als man sie in die Trudarmee einberufen hatte und seitdem litt sie unter der unerträglichen Kälte von unter Minus 30 Grad. Die Banja war der einzige Ort, an dem sie sich ein wenig entlastet fühlte. Vielleicht gehörte ein Quäntchen Glück auch dazu? Ungeachtet aller Strapazen des Alltags, lebte sie noch, wenn man diese zusammengepferchte Existenz mit mehreren Frauen in einer Baracke überhaupt als Leben bezeichnen darf. Keine Sekunde allein, keine Minute für sich, keine Stunde für eine kurze Zurückgezogenheit. Alles nach Plan, nach Norm und unter ständiger Überwachung. Verbot auf alles, sogar auf die Monatsregel. Jeden Abend mussten die Frauen einen Esslöffel bittere Tropfen schlucken, damit sie ihre Regel nicht bekamen."

Aus: German, Arkadij/Silantjewa, Olga (Hrsg.): In Arbeitskolonnen für die gesamte Zeit des Krieges. Zeitzeugen und Forscher berichten über die Deutschen in der Trudarmee. Moskau 2012.

 

Elfriede Kreyßig berichtet von ihrer Arbeit in Workuta:

"Das Objekt, dem ich zugeteit wurde, war eins der schwersten für Frauen. Zunächst hatten wir Ballast (Schotter) zu verladen und es wurde nicht eine Pause gemacht, bis alle Plattformen voll waren. Ich musste dabei an die Worte meiner Schwiegermutter denken, Wolfgang solle mich niemals im Garten graben lassen, es sei zu schwer für eine Frau."

Aus: Kreyßig, Elfriede: Bericht über zweieinhalb Jahre sowjetische Haft von 1951-1953. www.workuta.de.

Anneliese Fleck berichtet über Kosmetik und Make up:

"Mit einigen Handgriffen richteten wir die Haare, banden sie uns gegenseitig zu Zöpfen oder zu Pferdeschwänzen, um wenigstens etwas ordentlicher auszusehen. Aus meiner Handtasche nahm ich die rotlederne Puderdose, öffnete den Reißverschluss – und sah ein erbarmungswürdiges, elendes Gesicht mir aus dem Spiegel entgegenblicken. Verstohlen trug ich etwas Rouge auf, überpuderte alles, tief den wundervollen parfümierten Duft einatmend, den der Puder verströmte, und schminkte mit dem zyklamfarbenen Lippenstift meine Lippen. (...) Die mir zunächst Stehenden sagten: ‚Gib uns doch auch mal den Lippenstift."

Aus: Fleck, Anneliese: Workuta überlebt! Eine Frau in Stalins Straflager. Eltville 2001.